Als deutscher „Literaturpapst“ ist er jahrelang eine Institution, seine zahlreichen Verrisse sind gefürchtet und seine Kritiken legendär – Marcel Reich-Ranicki gehört als einflussreicher Literaturkritiker mehrere Dekaden lang zu den führenden Intellektuellen des Landes.
Marcel Reich-Ranicki wurde am 2. Juni 1920 als drittes Kind des jüdisch-polnischen Fabrikbesitzers David Reich und dessen deutscher Frau Helene im polnischen Włocławek an der Weichsel geboren. Er wuchs mit zwei älteren Geschwistern in gutbürgerlichen und behüteten Verhältnissen auf. Seine Erziehung und Ausbildung waren von bedeutendem Einfluss, da er die deutschsprachige Schule in Włocławek besuchte und 1929 mit der Familie nach Berlin zog, nachdem die Fabrik des Vaters in der Weltwirtschaftskrise bankrott ging. Dort besuchte er das Werner von Siemens-Realgymnasium und das Fichte-Gymnasium.
Obwohl er Talent und Interesse für Literatur zeigte, wurde ihm nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten als Jude der Zugang zu schulischen Veranstaltungen verwehrt. Stattdessen vertiefte er sich in die deutschen Klassiker. Nach dem bestandenen Abitur wurde ihm ein Germanistik-Studium verwehrt, und 1938 wurde er im Zuge der „Polenaktion“ als polnischer Staatsbürger in sein Heimatland abgeschoben. In jener Zeit wurde der Schriftsteller Thomas Mann – der sich aus dem Exil heraus von der NS-Herrschaft distanziert – sein großes literarisches und moralisches Vorbild.
Im ihm bis dahin unbekannten Warschau musste Marcel Reich-Ranicki die polnische Sprache neu erlernen. Zunächst war er arbeitslos, doch nach dem Einmarsch der Deutschen in Polen und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde er zur Umsiedlung ins Warschauer Ghetto gezwungen. Dort lernte er Teofila Langnas kennen, die er 1941 heiratete und mit der er bis zu ihrem Tod 2011 zusammenblieb – 1948 kam das einzige Kind, Andrzej Alexander, zur Welt.
Im Warschauer Ghetto arbeitete Marcel Reich-Ranicki wegen seiner guten Deutschkenntnisse als Übersetzer und schrieb unter Pseudonym für eine Ghetto-Zeitung. Die schrecklichen Erlebnisse und das allgegenwärtige Sterben dort prägten ihn bis ans Lebensende. In Gaststätten saß er stets mit Blickrichtung zum Eingang. Als ab 1942 die Bewohner des Warschauer Ghettos von den Deutschen in die Vernichtungslager deportiert wurden, ging Marcel Reich-Ranicki mit seiner Frau in den Untergrund und lebte bis zum Kriegsende versteckt – unter anderem bei einer polnischen Familie, die er mit der Nacherzählung von bedeutenden deutschen Romanen unterhielt und deren Kindern er bei den Schularbeiten half.
Die Eltern von Marcel Reich-Ranicki wurden in Treblinka ermordet, und auch sein Bruder Alexander überlebte den Krieg nicht. Seine Schwester Gerda flieht mit ihrem Mann rechtzeitig nach London, wo sie 2006 stirbt. Nach dem Ende des Krieges begann Marcel Reich-Ranicki seine literarische Laufbahn in Polen, wo er als Übersetzer arbeitete und journalistische Tätigkeiten aufnahm. Seine Autobiografie „Mein Leben“, veröffentlicht im Jahr 1999, bietet einen tiefen Einblick in das Leben eines Mannes, der die deutschen Literaturdebatten nachhaltig prägte.
Wichtigste Fakten über Marcel Reich-Ranicki
- Geboren am 2. Juni 1920 in Włocławek, Polen, als drittes Kind einer jüdischen Familie.
- Wurde bekannt als „Literaturpapst“ und prägte die Literaturkritik in Deutschland.
- Überlebte den Holocaust, wobei er im Warschauer Ghetto als Übersetzer arbeitete.
- Moderierte die renommierte TV-Sendung „Das Literarische Quartett“ von 1988 bis 2001.
- Seine kontroversen Kritiken beeinflussten den deutschen Buchmarkt nachhaltig.
Video über/mit Marcel Reich-Ranicki
Karriere
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann Marcel Reich-Ranicki seine literarische Laufbahn in Polen. Erste bemerkenswerte Werke umfassten Deutsch-Polnische Übersetzungen sowie journalistische Arbeiten für polnische Rundfunkunternehmen und Zeitungen. 1958 emigrierte er nach Westdeutschland, wo er schnell als Literaturkritiker bekannt wurde. In den Jahren 1959 bis 1973 arbeitete er bei der Wochenzeitung „Die Zeit“ und wechselte danach zur „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, wo er bis 1988 die Literaturredaktion leitete. Von 1988 bis 2001 moderierte er die TV-Sendung „Das Literarische Quartett“, die zum Inbegriff der literarischen Fernsehkritik in Deutschland wurde.
- 1959-1973: Kritiker bei „Die Zeit“
- 1973-1988: Leiter der Literaturredaktion der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“
- 1988-2001: Moderator von „Das Literarische Quartett“
Reich-Ranicki erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Anerkennungen für seine Arbeit, darunter die Ehrendoktorwürde der Berliner Humboldt-Universität. Trotz gelegentlichen Kontroversen, wie etwa mit Günter Grass oder dem deutschen Fernsehpreis im Jahr 2008, bleibt sein Einfluss auf die deutsche Literaturwelt unerreicht. Er inspirierte eine Generation von Lesern dazu, sich mit Literatur auseinanderzusetzen und machte die Literaturszene einem breiten Publikum zugänglich.
Persönliches Leben
Marcel Reich-Ranickis persönliches Leben war ebenso bemerkenswert wie seine Karriere. Er heiratete 1941 Teofila Langnas, die er im Warschauer Ghetto kennengelernt hatte. Ihre Ehe, die bis zu Teofilas Tod im Jahr 2011 Bestand hatte, war eine außergewöhnliche Partnerschaft, die durch die Herausforderungen und Schrecken des Holocaust geschmiedet wurde. Das Paar hatte 1948 einen Sohn, Andrzej Alexander, der sich in der akademischen Welt als Mathematikprofessor etablierte. Trotz der tragischen Verluste während des Krieges, darunter der Tod seiner Eltern im Vernichtungslager Treblinka, bewahrte Reich-Ranicki ein bemerkenswertes Engagement für das kulturelle Leben. Seine atheistische Weltsicht und charakteristische Skepsis prägten seine Schriften und Interviews. Reich-Ranicki blieb seinem jüdischen Erbe treu, äußerte sich jedoch oft kritisch über Religion im Allgemeinen. Seine Fähigkeit, sich selbst zu erziehen und seine Leidenschaft für Literatur in eine erfolgreiche Karriere umzuwandeln, beeindruckte viele.
Vermächtnis und Einfluss
Marcel Reich-Ranickis Beitrag zur deutschen Literatur und Kultur ist tiefgreifend und vielschichtig. Er half, die deutsche Literaturkritik zu revolutionieren und förderte jüdische Stimmen in der Literatur, was die kulturelle Landschaft Deutschlands bereicherte. Sein Einfluss reicht über die Literaturkritik hinaus und inspirierte viele Menschen, sich stärker mit Literatur auseinanderzusetzen. Durch sein mitreißendes Auftreten in „Das Literarische Quartett“ schuf Reich-Ranicki eine Bühne für literarische Debatten, die vielen Menschen den Zugang zur Literatur erleichterte. Seine Arbeit bleibt auch heute von Bedeutung, da sie eine Benchmark für literarische Diskussionen und Kritik setzt. Er hinterließ ein Vermächtnis, das von ständiger Hingabe zur Literatur und intellektueller Neugier geprägt war und bleibt ein kritischer Faktor in Deutschlands kulturellem Bewusstsein.
Interessante Fakten über Marcel Reich-Ranicki
Marcel Reich-Ranicki war eine Person voller faszinierender Anekdoten und verblüffender Details. Trotz der dunklen Jahre des Krieges, die er im Warschauer Ghetto und im Versteck überlebte, bewahrte er sich einen scharfen Intellekt und Humor. In seiner Jugend wurde er von den Ideen Thomas Manns angezogen, die ihm als literarisches und moralisches Vorbild dienten. Ein bemerkenswertes Detail aus seiner Zeit mit der polnischen Geheimpolizei war seine Arbeit unter dem Pseudonym „Ranicki“. Dies verlieh ihm später seinen bekannten Nachnamen, der sein Lebenswerk prägte.
Marcel Reich-Ranicki rezensierte in vierzig Jahren an die achtzigtausend Bücher, was seine Liebe zur Literatur eindrucksvoll unter Beweis stellt.
Eine weitere Facette war sein Engagement als autodidaktischer Leser, der sein Wissen nicht in akademischen Instituten, sondern durch eigenständiges Studium erwarb. Seine Bescheidenheit und persönliche Erfahrung prägten seine öffentliche Persona und seine unermüdliche Suche nach der Wahrheit in der Literatur. Diese besonderen Facetten und seine unvergessliche Medienpräsenz machten Marcel Reich-Ranicki zu einer faszinierenden Figur der deutschen Literaturgeschichte.